Voll bis zum Rand
Mit dem Raboso ist eine der lebendigsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit verbunden. Ich hatte eine Tante, die ein Wirtshaus mit „Casoin“, einem Brot- und Lebensmittelverkauf, betrieb. Einst war das so, wie eine Art Basar. Meine Tante war ein bisschen Wirtin und ein bisschen Kauffrau und man war ihr neidisch, da sie es verstand, aus strohgelbem Papier Tüten zu falten, wie sie einst auf wesentlich umweltfreundliche Weise das Plastik von heute ersetzten. Das Wirtshaus gibt es nicht mehr. Es wurde in den 70er Jahren durch moderne, anonyme Lokale ersetzt. Die Weingläser wurden in einem Bottich mit Wasser und Zitrone gespült. Vielleicht ein etwas plumpes Verfahren, das allerdings wenig verunreinigend und, da niemals jemand daran gestorben ist, offenbar nicht gefährlich war. Meine Tante ließ es zu, dass ich hinter der Theke stand. Eine Theke mit diesem typischen Weingeruch…, ein Geruch von ausgeschüttetem Wein und feuchtem Holz. Wenn man einen Schoppen, die „ombra de vin“, wie das Glas Wein im Veneto genannt wird, servierte, musste man es randvoll machen, der Wein musste etwas überlaufen. Wenn man das nicht tat, wurde man gerügt. Das machte ich leidenschaftlich gerne: Den Gästen, nachdem sie den Esel oder die Kuh an der sogenannten „sciorna“ (dem Ring, der einst zum Anbinden der Tiere an der Außenmauer befestigt wurde) geparkt hatten, ein Glas Raboso einschenken.
Der Wein musste über den Rand des Glases laufen, sonst war es keinen ganzer Schoppen.
“Du, Kleiner, mein Schoppen ist nicht voll”, riefen sie und du schenktest nach und sie schlürften und machten dabei ein besonderes Geräusch, das deutlich zum Ausdruck brachte, dass die Säure des Weins den Gaumen berührt hatte.
Es war fast immer ein Glas Raboso, aber es konnte auch Clinton sein. Ein Wein, den es nicht mehr gibt, da er, wie man sagte, giftig war. Hingegen war er nur ausgesprochen tanninhaltig, so tanninhaltig, dass die Farbe an den Füßen derjenigen, die die Trauben stampften, zurückblieb. Auch die Zähne färbte er… Und dann gab es den Bacò, den man aus Reben mit kleinen Beeren gewann. Der Rebstock, von dem er stammte, verlangte, wie auch der Clinton, keine Pflege.
Hingegen erforderte der Raboso, obwohl es eine charakterfeste Rebsorte war, ein bisschen Aufmerksamkeit. Während meiner Kindheit wurde er mit Grünspan, einer Mischung aus Kupfer und Schwefel, gespritzt. Für mich war es ein Fest: „Und jetzt pumpen“, sagten die Bauern, nachdem ich die Ehre hatte, mir das Gerät auf meine Schultern zu laden.
Mit dem Geruch dieser Trauben und dieses Weines verbinde ich meine Zugehörigkeit zu den Orten, an denen ich geboren und aufgewachsen bin. Sobald ich die Möglichkeit hatte, habe ich meine Ersparnisse in Grund und Boden investiert und auf den Raboso gesetzt.
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